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1970: Der Künstler als Ganzes
 
Vor etwa zehn Jahren staunte die Musikwelt nicht schlecht, als ein junger Israeli auf europäischen Bühnen auftauchte, der seinen Kontrabass meisterhaft bediente, nachdem er in den USA mit den Größen des Jazz gespielt hatte. In enger Partnerschaft mit seinem Instrument bewegte er sich ekstatisch auf der Bühne und sang dazu leidenschaftlich auf hebräisch, englisch und Ladino, der Sprache der sephardischen Juden, traditionelle und eigene Lieder, und daneben wurde sein eigenes Trio Dreh- und Angelpunkt für den israelischen Jazz-Nachwuchs. Nun, mit seinem neuen Album 1970 (sein Geburtsjahr) geht Avishai Cohen den Weg des Sängers und Songschreibers konsequenter weiter und vertraut dabei ganz der Wirkung seiner Stimme, mit dem etwas heiseren Timbre des Instrumentalisten. Er bleibt dabei völlig unbeeindruckt von allen in der Jazzwelt eventuell zu befürchtenden Kontroversen. Im Gespräch versicherte er, dem Publikum immer als der erhalten zu bleiben, der er ist: Bassist, Sänger, vor allem aber Komponist Avishai Cohen.
 
Jan Kobrzinowski: Ich war, zugegeben, überrascht über die Single „Motherless Child“, als Vorgeschmack auf das neue Album, 1970. Hattest du das beabsichtigt?
Avishai Cohen: Ich will eigentlich nicht bewusst überraschen. Ich möchte vielmehr mich selbst triggern. Ich muss mich selbst für das interessieren, was ich mache, und brauche die Herausforderung. In den letzten Jahren ist Einiges passiert, ich entwickelte mich vor allem als Sänger weiter, spätestens seit Aurora. [2007] Und die Leute wollten, dass ich singe. Sie fragen danach. Ich schulde ihnen und mir, mehr zu singen, auch um mich als Mensch weiter zu entwickeln. Wenn du singst, kannst du vor nichts weglaufen, und so kann ich dir und mir am nächsten sein. Nicht, dass die Musik allein nicht genug wäre, ich bin Komponist, kreativer Musiker, und viele Fans schätzen mich als Instrumentalisten, aber ebenso viele wollen mich singen hören. Ich wollte eigentlich keine neue Platte machen, als Sony uns ansprach. Ich sagte ihnen, ich sei nur interessiert an einem Gesangsalbum, eingebettet in meine Musik. Ich wollte keine neue Jazzplatte. Einfach singen und alles, was es braucht, wird schon kommen. Ich liebe das Konzept kurzer und sehr guter Songs, wie bei den Beatles oder bei Beethoven [lacht]; wie der klassische Satz einer Sinfonie: kurze, fokussierte, gebündelte Momente wahrhaftiger Musik. 1970 ist die Rückbesinnung auf alte Stücke, die ich seit Jahren in der Schublade habe.
JK: Genießt du es, nicht immer zeigen zu müssen, was Du kannst? Ist nun Zeit für Entspannung?
AC: Für mich ist es dasselbe, egal, ob ich mit Trio oder Orchester spiele oder einen Song singe. Es ist jetzt wie frische Luft zu schnappen, nicht immer virtuose Jazz-Improvisationen spielen zu müssen. Das ist ohnehin so großartig, dass ich es immer tun werde, das ist in meiner DNA. Aber es ist aufregend, jetzt mit der Band die Stücke zu entwickeln, sich auf kommende Shows vorzubereiten, und neue Musik zu liefern. In diesem Sinne will ich überraschend sein, ich möchte dich mit etwas ‚waschen’, womit du hinweggefegt wirst. Es geht nicht darum, geliebt zu werden, ich möchte, dass du dich über den gewöhnlichen Moment erhebst, wenn du meine Musik hörst.
JK: „Song of Hope“ kann man als Botschaft verstehen. Steht dieser Song bewusst an der ersten Stelle, weil er vielleicht auch ein Rezept zur Lösung einiger Probleme in dieser Welt enthält?
AC: Ich bin nicht derjenige, der das mit Absicht verfolgt. Schau, die meisten Lieder auf dem Album sind Liebeslieder. Über die Musen, meine Beziehung zu Frauen, Liebe, die vergnügten, großen, tiefen Gefühle, Enttäuschung und all das zu singen, ist für mich das Natürlichste. Ich mache keine politische Musik. Neulich auf einem Flug, es war zu der Zeit, als Trump auf der Bildfläche erschien, kam mir in den Sinn, über das zu schreiben, was gerade passiert, ohne viel Klischees, ohne das Rad neu zu erfinden. Aber es sollte diese notwendige Botschaft enthalten, dass mir bewusst ist, was gerade passiert. Vielleicht kann man der Situation helfen mit Zeit, Geduld und Liebe. Es war letztlich die Idee der Plattenfirma, den Song an die erste Stelle zu setzen, vielleicht, weil sie dachten, es könnte eine Single werden.
JK: Was würdest Du sagen, wenn einer der Songs plötzlich in den Pop-Charts auftaucht?
AC: Ich müsste lügen, wenn ich das nicht super-aufregend fände. So obskure, fortgeschrittene Sachen ich auch sonst spiele, es wäre doch ein großer Wunsch, dass alle, nicht nur Jazz- oder intellektuelle Fans, mitbekommen, was ich fühle. Ich glaube, mir ist gegeben, immer Zugang zur Einfachheit in meiner Musik zu behalten, was immer ich auch spiele. Und die Leute bestätigen mir das. 1970 ist die Fortsetzung ein und derselben Geschichte, und sollte diese in die Pop-Charts eingehen: wunderbar. Vor 9 Jahren habe ich eine Platte gemacht, Sensitive Hours (Shaot Regishot), die blieb ein israelisches Ding, sie wurde nie außerhalb Israels veröffentlicht. Die Songs waren auf hebräisch, und zwei davon kamen in die israelischen Charts. Die Leute sagten: ‚Wow, eine akustische Band hat einen Hit!’. Es wäre in vieler Hinsicht ein großer Gewinn für mich, mit guter Musik einen Hit zu landen.
JK: Kannst Du etwas über die Songs auf hebräisch sagen, deren Text die meisten Hörer ja nicht verstehen?
AC: Es gibt 3 Stücke mit hebräischem Text. Meine Version des Traditionals „D’ror Yikra“ hat jemenitische und sephardische Einflüsse, „Ma’a se Bena’ara“ erzählt von einer Frau, die aus dem Wald kam und die Liebe in die Welt brachte. „Sei’ Yona“ ist ein jüdischer Folksong, total jemenitisch. Ich lernte das Stück von Elyasaf Bishari, unserem Oud-Spieler, der es auch singt. Ich unterzog das Stück meinem ‚Prozess’, harmonisierte es neu, und heraus kam diese Version. Das ist für mich die größte Qualität, die man auf der Suche nach der Musik erreichen kann: in verschiedenen Kulturen und nach Individuen zu suchen, die Musik verändern und befruchten können.
JK: Es ist der mutige Schritt eines Künstlers in eine andere Richtung, ungeachtet des Genres, in dem er groß geworden ist. Im Jazzkontext hast Du mit Chick Corea und all denen gespielt, und jetzt scherst Du Dich nicht darum, ob Jazzfans gut finden, was du tust.
AC: Es begann mit dem Gesang. Ich hatte angefangen zu singen, weil es für mich persönlich notwendig war. Das hat nichts zu tun mit dem vollen Respekt für alle meine Fans. Aber: wenn ich nicht das mir Wichtigste, Persönlichste, Delikateste mit Anderen teilen kann, was ist es dann wert, was ich tue? Ich bringe immer mich selbst als Ganzes ein, nie nur Teile von mir. Manchmal sagen mir Leute, dass ich live soviel von mir selbst gäbe. So erlebe ich mich auch, in der Art Erlösung, die die Musik mir verschafft. Ich gebe viel. Ich glaube, ich weiß von keinem anderen - mit meinem Profil, meine ich - der macht, was ich ständig tue. Nicht nur auf der Bühne. Ich finde es gut, wenn die Leute das merken, aber am Ende ist das völlig natürlich für mich.
JK: Ich verfolge Deine Musik seit fast 10 Jahren. So auch die Richtungen, die Du dabei eingeschlagen bist. Ist jetzt ein neuer Avishai dazugekommen?
AC: Gute Frage: ‚Ist das die neue Version von Dir?’ - Wir alle wollen irgendwo zu Hause sein. Wir wollen erkannt werden als Etwas. Aber es geht um die Liebe, glaube ich. Und um den Wunsch zu Leben und die Gründe dafür. Es ist die natürliche Reaktion einer denkenden Person, wissen zu wollen, wer man ist und was man geschafft hat. Aber nochmal: es ist nicht neu, dass ich singe. In der Tat ist die erste Single, „Motherless Child“, wohl das Pop-mäßigste Stück der ganzen Produktion, sodass die Leute vermutlich sagen werden: ‚Oh, wo führt das jetzt hin?’ Das ganze Album hat soviel Verbindungen zu meiner Musik, sodass ich sagen kann: ‚Keine Sorge, ihr kriegt schon, was ihr wollt’. Aber, weißt du, es macht auch Spaß, zu schockieren. Und warum sollte ich es mir nur leicht machen? Du wirst dich nicht wirklich für das Neue interessieren, wenn du nicht auch durchgerüttelt wirst. Im Grunde ist es ein Geschenk, dass ich so etwas tun kann.
JK: „Avishai Cohen - Jazz Free“, war das auch eine Provokation, oder ein Statement der Abgrenzung, zur Befreiung von Begrenzungen?
AC: Jetzt, da wir ein Album mit einem Namen haben, weiß ich nicht, ob wir ‚Jazz Free’ noch brauchen. Vielleicht nennen wir es nun die „1970-Band“ oder ähnlich. Die Botschaft ist: es ist das, was es ist. Aus meiner Sicht hörst du keinen Song auf dem Album, der wirklich schlecht ist [bad shit]. Und wer regt sich darüber auf, dass es wohl mehr Pop als Jazz ist? Am Ende ist die Musik genauso komplex [intricate] wie alles, was ich bisher gemacht habe. Mehr als Bassist, Sänger oder alles andere bin ich Komponist. Ich schreibe Musik, das ist alles, was ich tue. Ich bin vielleicht einer der wenigen, die so unterschiedliche Sachen liefern - und bin auch froh darüber - aber mit der Zeit wird mir immer klarer, dass es mir mehr um das Eigentliche geht. Das Geschenk ist es, alles zu verfeinern zu können und noch besser zu werden, abseits vom Talent, was einem gegeben ist. Am Ende ist es wirklich heavy, immer jeden Tag alles zu geben.
JK: Ist das Medley „Vamonos Pa’l Monte/Muñeca“ Deine persönliche Hommage an Eddie Palmieri und die afrokubanische Tradition? Das war immer ein wichtiger Teil Deines speziellen Mixes, insbesondere des rhythmischen.
AC: Bevor ich überhaupt die Person wurde, die ich bin, trug ich schon irgendeine ererbte afrikanische oder afro-karibische Essenz in mir. Ich habe eine starke Affinität zu dieser Musik. Als ich mit 21 nach New York ging, suchte ich genauso intensiv nach Paul Chambers und virtuosem Bebop auf dem Bass, wie nach dem Latin-Bass und den Großmeistern wie Andy Gonzalez. Ich ging zum lernen zu ihm, weil er der Bassist in Eddie Palmieris Band der 70er war, einer der besten, bahnbrechenden Formationen des modernen Latin Jazz oder Salsa. Eddie in den 90ern zu sehen, war für mich wie Charlie Parker zu treffen. Auf ein so hohes und episches Niveau wie Eddie wollte ich meine Musik auch bringen. Es brach stark in meine Musik ein und veränderte mich bis auf die Knochen. Es machte mich genauso zu dem, wie ich bin, wie z.B. in Jerusalem zu leben. Und es formte die Fähigkeit, mir selbst zu erklären, wie Rhythmus funktioniert: trotz solcher Komplexität immer auf dem Boden zu bleiben. Du wirst natürlich meist 70% eigene Kompositionen bei mir finden, aber mich mit Musik zu beschäftigen, die es schon so lange gibt, und solch monumentale Stücke wie „Vamonos Pa’l Monte“, „Motherless Child“ oder „D’ror Yikra“ zu covern, ist für mich wie eine tiefe, faszinierende Begegnung mit einer älteren, ehrwürdigen Person, der ich viel Respekt entgegen bringe.
JK: Avishai, es hat mich sehr gefreut, mit Dir so offen über deine neue Musik zu sprechen. Vielen Dank!
AC: Ich stehe zwischen zwei Extremen: normalerweise mag ich gar keine Interviews geben, und wenn ich sie gebe, hasse ich es oder ich liebe es – letzteres ist passiert, und dann gehe ich total mit.
 
Pat Metheny/Charlie Haden, immer wieder Miles, oder auch Bob Dylan wurden ihre Ausflüge in vermeintlich seichte Gewässer stets von Puristen und fundamentalistischen Fans übel genommen. Sich wie Avishai Cohen als Popsänger zu „outen“, bedeutet natürlich auch, sich an anderen Kriterien messen zu lassen. Geschmacksfragen und Befindlichkeiten treten bei Rezeption und Kritik schnell in den Vordergrund, aber all das scheint ihm herzlich egal zu sein. Man tut ihm unrecht, wenn man ihn nur als Künstler in vielen Chamäleon-artigen Farben sieht, oder nur als den leidenschaftlichen Jazzbassisten mit selten großer Anhängerschar. Avishai Cohen verdient es, als Ganzheit wahrgenommen zu werden. Auf 1970 erklingt zu 85% Popmusik, zweifellos, aber sie hat diesen sanften Touch des Mittleren Ostens und trägt deutlich seine Handschrift. – Und, wer weiß, vielleicht hat „Emptiness“ ja sogar das Zeug zum ersten Hit der Pop-Geschichte im 5/4-Takt.
Jan Kobrzinowski
 
CD: Avishai Cohen – 1970 (Sony)

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Erschienen in JAZZTHETIK 9/10-2017
Avishai Cohen - 1970
Mit seinem neuen Album wird Avishai Cohen unter Jazzfans für Kontroversen sorgen. Doch der Bassist und Sänger hat keine Angst - nicht einmal vor den Pop-Charts
 
von Jan Kobrzinowski